Ein Meister der Homöopathie ist von uns gegangen

Martine Jus, dipl Homöopathin hfnh/SHI und Leitung SHI Haus der Homöopathie, Zug

Am 10. Juni 2019 ist Mohinder Singh Jus unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben. Wir haben einen grossen Homöopathen, Philosophen, Künstler, Lehrer, Mentor, Freund und weisen Wegbegleiter verloren. Seine Liebe galt sein Leben lang der Homöopathie, sie war seine Mission und er verstand sie als eine Heilkunst.

Studium

Eigentlich wurde ihm die Homöopathie bereits in die Wiege gelegt. Sein Vater war Kunstmaler und hatte im Selbststudium Homöopathie studiert. Jeden Abend öffnete er für drei Stunden seine Praxis und behandelte Bedürftige kostenlos. So kam es, dass Mohinder Singh Jus schon in jungen Jahren seinem Vater in der Praxis half, die Mittel abgab und die Krankengeschichten niederschrieb.

Fasziniert von den Heilungserfolgen seines Vaters beschloss er in Kalkutta Homöopathie zu studieren. Er hatte das grosse Glück bei Dr. B.K. Bose, dem letzten lebenden Schüler von Dr. J.T. Kent, zu lernen. Dieser beeindruckte und festigte ihn so sehr, dass es nach dem Studium und der Assistenzzeit im Calcutta Homoeopathic Hospital nicht lange ging, bis er einer der gefragtesten Homöopathen Indiens wurde. Er behandelte wichtige Persönlichkeiten aus der Politik, der Wirtschaft, berühmte Musiker und Künstler genauso wie Bedürftige. Von den Reichen verlangte er Geld, die Armen behandelte er umsonst. Regelmässig besuchte und behandelte er kostenlos Dorfbewohner in der Nähe von Delhi. Dieses soziale Engagement war ihm sehr wichtig. Selber war er in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen und er vergass niemals seine Herkunft.

Von Anfang an war ihm die Nachwuchsförderung wichtig und er nahm immer wieder Praktikanten und Assistenten in seiner Praxis auf und engagierte sich als Dozent und Prüfungsexperte an verschiedenen Universitäten.

Erste Praxis

Seine erste Praxis eröffnete er in seinem Wohnhaus an B9 Kailash Colony in Delhi. Sein Vater schenkte ihm als Eröffnungsgeschenk ein Velo. Damit machte der junge Arzt seine Hausbesuche. In den ersten Praxisjahren machte er mit viel Freude auch Kleinchirurgie in der Praxis. Bald wurde die Praxis so lebhaft, dass er sich fortan nur der Homöopathie widmete. Nachbarn berichten immer noch, dass in der kleinen Strasse, an der das Haus stand, sich jeden Tag eine lange Autoschlange bildete mit den Patienten von Dr. Jus. Nach wenigen Jahren eröffnete er eine zweite Praxis im Zentrum von Delhi. Zu dieser Zeit war er offizieller Arzt der Indian Airlines und Air India und er wollte eine zentralgelegene Praxis für die vielbeschäftigten Piloten und anderen Angestellten anbieten. Am Vormittag und am Abend praktizierte er an seinem Wohnort, am Nachmittag in der zweiten Praxis. Durch die hohe Patientenanzahl lernte er schnell und effizient zu verschreiben. Dabei wich er nie von den Prinzipien ab, die er bei Dr. Bose erlernt hatte. Akute Erkrankungen und Epidemien, wie Masern, Scharlach, Dengue-Fieber, Lungenentzündung und Infektionskrankheiten aller Art waren an der Tagesordnung sowie natürlich auch chronische Krankheiten. Durch mehrere beeindruckende Erfolge, schuf er sich den Ruf, der „Nierenkolik-Doktor“ zu sein, so dass ihn Patienten von weit her aufsuchten. Er behandelte jeden mit Hingabe und Liebe und war Tag und Nacht für seine Patienten da.
Ferien kannte er nicht.

Berufspolitisches Engagement

War er nicht in seiner Praxis, dann war er für die Anerkennung der Homöopathie in ganz Indien unterwegs. Sein Ziel war nämlich die staatliche Anerkennung und Gleichstellung der Homöopathie gegenüber der Schulmedizin in Indien. So beschloss er, alle Homöopathie Vereine zusammen zu führen und gründete zusammen mit befreundeten Homöopathen die „Homoeopathic Medical Association of India“ (HMAI). Acht Jahre war er Vizepräsident der HMAI und Präsident der Sektion New Delhi. Zudem war er Chefredakteur der Zeitschrift HMAI. 1973 wurde der Durchbruch geschafft, die Regierung gab nach und anerkannte die Homöopathie.

Die Anfänge in der Schweiz

Als B.K. Bose im Sterben lag, versprach er ihm, sich um die Homöopathie zu kümmern und sie weiter zu verbreiten. Da er in Indien bereits vieles erreicht hatte, beschloss er in der Schweiz die Homöopathie zu etablieren. Nach dem Grund gefragt, warum er ausgerechnet die Schweiz ausgewählt hatte, antwortete er: „Ich dachte, wenn ich es in der Hochburg der pharmazeutischen Industrie schaffe, dann schaffe ich es überall“. 1985 kam er ohne Deutschkenntnisse nach Bern. Er erzählte gerne von seinem misslungenen Versuch, Deutsch in einer Sprachschule zu lernen: „Als der Lehrer „der, die, das, den, dem usw.“ erklärte, wurde es mir so schwindelig, dass ich nach Hause ging und entschied, es auf meine Art zu machen.“ Ja, dieser freie, unkonventionelle Geist konnte nichts mit den Zwängen der Grammatik anfangen! Schon nach vier Monaten begann er zu praktizieren und nach kurzer Zeit hatte er Patienten aus der ganzen Schweiz und Europa.
Vier Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz begann er, auf Deutsch zu unterrichten. Dabei kümmerte es ihn in keiner Weise, dass er viele „Deutsch-Fehler“ machte. Seine Studenten aus dieser Zeit erinnern sich gut an verschiedene, lustige Phasen, bei denen er alles mit „DIE“ bezeichnete, die Gott, die Mann, die Mond…dann kam die DER-Phase, gefolgt von der DAS-Phase. Er liebte es, mit der Sprache zu spielen, Wortspiele zu machen und sorgte immer für Auflockerung bei ernsten Themen. Er liess sich nie bremsen durch solche Kleinigkeiten und verfolgte zielstrebig sein Ziel: die Gründung einer Schule und die Anerkennung der Homöopathie in der Schweiz. Dr. Künzli ermöglichte ihm für den SVHA (Schweizerischer Verein Homöopathischer Ärzte), in den Räumlichkeiten der Uni Zürich und später am Inselspital Bern, Ärzte in Homöopathie zu unterrichten. Dort lernte er auch Martine Jus kennen, die genauso wie alle anderen von seiner Art zu unterrichten und seinem Wissen begeistert war. Seine feurige, hitzige und direkte Art brachte ihm aber nicht nur Freunde. Er kämpfte wie ein Löwe für die Homöopathie und duldete keine Abweichungen von den Grundprinzipien. Neben dem Unterricht und seiner Praxistätigkeit arbeitete er bei verschiedenen Ärzten als Supervisor.

Gründung des SHI

1988 gründete er in Liestal das Schweizerische Homöopathie Institut SHI, dessen Aufgabe die Organisation von Wochenendkursen und die Aufklärung der Bevölkerung in klassischer Homöopathie war. Bald initiierte er die Gründung des Homöopathischen Ärzte Verband (HAV), der später in Homöopathie Verein Schweiz (HVS) umbenannt wurde. In diesem Verein waren nicht nur Therapeuten, sondern auch über 1500 Patienten und Freunde der Homöopathie Mitglied. Bei jedem Seminar begeisterte er die Zuschauer, generierte unzählige HVS Mitglieder und die Bewegung begann immer mehr zu wachsen. Er sagte stets „die Homöopathie muss aus der Basis wachsen, und die Basis ist die Bevölkerung“.

Praxis in Baar

1990 fand der Umzug in die Zentralschweiz statt. In den Räumlichkeiten an der Dorfstrasse 12 in Baar wurden eine Praxis, das SHI-Sekretariat und die Homöosana, die homöopathischen Hausapotheken produzierte, untergebracht.
In Baar konnte er sein einmaliges, bahnbrechendes Unterrichtskonzept erstmals realisieren: Seine Patientenanamnesen wurden live ins Nebenzimmer übertragen. Dort konnten Ärzte und Homöopathie-Studenten die Anamnese beobachten und praktisch lernen. Inspiriert von seinem Lehrer, Dr. Bose, der immer „bedside- teaching“ bevorzugte, war Dr. Jus die praktische Vermittlung seines immensen Wissens sehr wichtig.

Der Homöopath

Als er in die Schweiz kam, wurde Homöopathie entweder von Ärzten oder von Heilpraktikern ausgeübt. Der Begriff des Berufs des Homöopathen kam schlichtwegs nicht vor. Dr. Jus begann zielstrebig, immer das Wort „der Homöopath“ in jedem Seminar und bei jedem Interview zu benützen. Er kämpfte an allen Fronten, damit die Homöopathie als eigenständige Medizin ihren Platz in unserer Gesellschaft findet. Vieles, was heute im Berufsfeld der Homöopathen selbstverständlich ist, verdanken wir der Hartnäckigkeit dieses Meisters.

Öffentlichkeitsarbeit

Dr. Jus war die Aufklärung der Bevölkerung in Homöopathie und Gesundheit sehr wichtig. So scheute er keine Mühe und reiste in alle Teile der Schweiz, um Laienvorträge zu halten. Er sprach vor hunderten von Menschen und entfachte in deren Herzen die Faszination für die Heilkunst der Homöopathie. Von allen Büchern, die er geschrieben hatte, war „Die Reise einer Krankheit“ sein Lieblingsbuch. Im Vorwort zur siebten, erweiterten Auflage, welche 2019 erschienen ist, schrieb er: „20 Jahre sind es her, seit die erste Auflage von „Die Reise einer Krankheit“ erschienen ist. Die positive Resonanz auf dieses Buch sowohl bei Homöopathen, wie auch bei Patienten haben meine Erwartungen übertroffen. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt und führte Tausende in die Geheimnisse der Homöopathie ein. Ich habe dieses Buch verfasst, um die Homöopathie in einfacher Sprache und in ihrer ganzen Tiefe einem breiten Publikum zu erläutern. Immer wieder begegnen mir Leser dieses Buchs und erläutern mir die Reise ihrer eigenen Krankheit.“
Dr. Jus nutzte seine Popularität um die Homöopathie regelmässig in den Medien zu thematisieren: Seine Artikel und Interviews in Zeitungen, Radio- und Fernsehauftritten trugen zum Aufblühen der Homöopathie in der Schweiz massgebend bei.
Durch die ständig wachsende Popularität der Homöopathie wurden die Behörden aufmerksam und erliessen immer wieder neue Richtlinien für homöopathische Medikamente. 1997 wurde die Verfügbarkeit von Nosoden durch einen Verordnungsentwurf sehr gefährdet. Dr. Jus war an vorderster Front aktiv und sammelte für die mehr als 250‘000 Unterschriften tatkräftig mit für eine Petition an Bundesbern. Das Schlimmste konnte abgewendet werden und heute noch profitieren Patienten und Homöopathen von dieser politischen Arbeit. 2009 kam die Abstimmung „Ja zur Komplementärmedizin“. Dr. Jus war sofort dabei, und angespornt durch seine Leidenschaft für die Homöopathie, konnte er sein Team, seine Studenten, Patienten und Freunde für diese Sache gewinnen und ein tolles, engagiertes Zuger-Wahlkomitee leistete hervorragende Arbeit.

SHI Haus der Homöopathie

Inspiriert vom indischen Bildungsmodell, gemäss dem die Homöopathie auf Hochschulniveau unterrichtet wird und angetrieben von seinen hohen Anforderungen an die Ausbildungsqualität, gründete er 1993 zusammen mit seiner Frau Martine die Dr. B.K. Bose Stiftung und eröffnete die SHI Homöopathie Schule in Steinhausen. Dabei konnte das Ehepaar Jus auf die Unterstützung ihres langjährigen Freundes und Mitstreiters Dr. Dominique Aubry (1952-2019) zählen. Zusammen formulierten sie das erste Curriculum der Schule und setzten somit ein Ausbildungsniveau, das europaweit zum Massstab wurde.
Dr. Jus entwickelte seine Vision eines Homöopathie Zentrums immer weiter. Unter einem Dach sollte nicht nur Homöopathie gelehrt und praktiziert werden, sondern auch alles, was der Etablierung und Weiterentwicklung der Homöopathie diente: Forschung, Arzneimittelherstellung, Verlag für Homöopathische Literatur, eine grosse Bibliothek, ein Museum für seinen verehrten Lehrer Dr. B.K. Bose, sogar eine homöopathische Drogerie. Seine Vision wurde 1997 mit der Eröffnung des SHI Hauses der Homöopathie in Zug Realität.
Er schaffte es damals, die gesamte Einrichtung des SHI Haus der Homöopathie mit Spenden von Freunden und dankbaren Patienten zu erwerben. Er benutzte eine „Hochzeitsliste“ auf der jeder ankreuzte, was ihm möglich war: ein Stuhl, eine Pflanze,… Er war höchst dankbar für die liebevolle Unterstützung so vieler Menschen. Am 10. September 1997 wurde das SHI Haus der Homöopathie festlich eingeweiht. Dr. Jus sagte dazu: "Es war ein wichtiger Tag für mich, ich hatte einen Meilenstein erreicht und gleichzeitig feierte ich meinen fünfzigsten Geburtstag".
Später kam der wunderschöne und inspirierende SHI Homöopathie Gar ten hinzu, der Heimat für über 150 verschiedene Pflanzen- und Sträucherarten ist.

Höhere Fachschule

Unter seiner Führung wurde das SHI Haus der Homöopathie ein nationales und internationales Kompetenzzentrum für klassische Homöopathie. Sein Ziel war die Anerkennung der Homöopathie als Beruf: „Solange wir das nicht erreichen, werden top ausgebildete und seriöse Homöopathen zusammen mit Scharlatanen in einen Topf geworfen, das ist nicht akzeptabel!“. Nach vielen Sitzungen mit den Zuger Behörden schaffte er den Durchbruch und 2007, nach einem 4-jährigen Anerkennungsverfahren wurde der Bildungsgang Homöopath der SHI auf dem Niveau Höhere Fachschule vom Regierungsrat des Kantons Zug staatlich anerkannt. Die SHI Homöopathie Schule ist die einzige Homöopathie Schule der Schweiz, welche staatlich anerkannte HF-Diplome anbietet. Durch sein umfassendes gesellschaftliches und akademisches Engagement im In- und Ausland hat Dr. Jus wesentlich zur breiten gesellschaftlichen Akzeptanz der Homöopathie beigetragen.

Liebe zur Homöopathie

Dr. Jus war stolz, Homöopath zu sein und wünschte es auch für seine Studenten. Bei der Qualität der Ausbildung machte er keine Kompromisse. Das Beste war nicht gut genug: „Die Homöopathie ist ein Meer, wie kann man behaupten, dass man genug gelernt hat?“ In seinen letzten Jahren pflegte er zu sagen: „Jetzt bin ich ein guter Student geworden.“ Demütig bat er immer seinen Mentor Dr. B.K. Bose um Führung, demütig bedankte er sich bei jedem Heilungserfolg bei Hahnemann und bei Gott.
Das Weitergeben seines Wissens und das Entfachen der Begeisterung und Liebe zur Homöopathie bei seinen Studenten und Patienten waren ihm sehr wichtig. Oft zitierte er Dr. Kent und forderte seine Studenten auf, seine Worte in ihrem Leben umzusetzen: „Liebe die Homöopathie und sie wird dich auch lieben.“
Neben dem Unterricht in seiner Schule, gab er regelmässig Seminare im Ausland: Deutschland wurde zu einer zweiten Heimat für ihn, aber auch in Norwegen, Polen, Finnland, Russland, USA, Indien und in vielen anderen Ländern war er ein gefragter Referent. Er setzte sich auch für die Verbreitung und Anerkennung der Homöopathie in Armenien ein, beriet die Regierung in dieser Angelegenheit, hielt während mehreren Jahren Seminare und wirkte als Prüfungsexperte in Jerewan.
Auch in Thailand kämpfte er für die Homöopathie. Ende September 2000 besuchte ihn eine Thailändische Delegation des Gesundheitsministeriums. Sie wollten sich in der Schweiz ein Bild von der Homöopathie machen. In Thailand dominierte die Schulmedizin und der Regierung fielen dadurch jährlich sehr hohe Kosten an. Zudem war die Bevölkerung zunehmend unzufrieden mit den Nebenwirkungen. Sie wollten einen Weg finden dies einzudämmen und hatten von unserer Institution gehört. Sie blieben für eine Woche und er gab ihnen ausführliche Einblicke in die Homöopathie und deren Möglichkeiten. Anschliessend wurde er vom Gesundheitsminister nach Bangkok eingeladen. Dort hielt er einen Vortrag um den Ärzten die Homöopathie zu erklären und sie in diese Heilmethode einzuführen.

Schreibarbeit und Autor

Als Autor von mehreren Büchern (insbesondere „Die Reise einer Krankheit“) und Fachartikeln hat er tausenden von Menschen ein tieferes Verständnis der Homöopathie und der Miasmen nahegebracht und den bedeutungsvollen Unterschied zwischen Heilung und Unterdrückung aufgezeigt. Obschon er in seinem Leben unglaublich viel schrieb, zog er die mündliche der schriftlichen Ausdrucksform deutlich vor. Sein Mentor Dr. Bose hatte keine Zeile in seinem Leben geschrieben und seinen Studenten gesagt: “Ihr seid meine Bücher.“ Dr. Jus wusste aber, dass die Zeiten sich geändert hatten und er damit die Art der Homöopathie, die er von Bose erlernt hatte, nicht nur mündlich weitergeben und verbreiten konnte. Deshalb schrieb er sein Wissen in vielen Stunden nieder und im Lauf der Jahre entstanden viele wertvolle Werke. Sein Meisterwerk „Praktische Materia Medica“ ist vielen Homöopathen eine treue und sichere Hilfe im Praxisalltag. Von 1991 bis 2018 war er Chefredaktor der Zeitschrift Similia. Seine Editorials waren philosophische Texte, die uns noch lange inspirieren werden. Er schrieb jedoch nicht nur Fachbücher, auch seine Bücher „Lebensfluss" und „Evolution“ begeistern und inspirieren viele Menschen mit den selbstgemalten Bildern und philosophischen Themen.

Casetaking

Seine Fallaufnahmen und das Aufspüren des Similimums waren meist verblüffend kurz. Was oftmals als rein intuitives Vorgehen interpretiert wurde, basierte tatsächlich auf seinen beeindruckenden Kenntnissen der Materia Medica und der Miasmen, sowie auf seinen hervorragenden Menschenkenntnissen. Grossen Wert legte er stets auf die Beratung und Begleitung des Patienten, von den Grundprinzipien der Homöopathie wich er nie ab, stellte immer den Menschen ins Zentrum der Therapie und ersuchte seine Studenten stets den Menschen, und nicht die Krankheit zu behandeln.

Goa

In den letzten 15 Jahren entstand unter seiner Führung eine wundervolle und fruchtbare Kooperation zwischen der SHI Homöopathie Schule und dem Shri Kamaxidevi Homoeopathic College and Hospital in Goa, Indien.
Jedes Jahr arbeitete Dr. Jus mit einer Gruppe von Homöopathen und Studenten aus der Schweiz und Deutschland im Homöopathie-Spital in Goa. Während des zwei- bis dreiwöchigen Praktikums behandelte er im Spital und in diversen Camps in allen Teilen von Goa viele Patienten. Er konnte hier den Studenten und ausgebildeten Homöopathen die Kunst der Fallaufnahme und wie man schnell die wichtigen Kernpunkte des leidenden Menschen erfasst, direkt zeigen. Auch die immer wieder erstaunlich raschen Heilungsverläufe der Patienten im Spital waren eindrücklich. Er gab hier auch direkt sein Wissen aus der Spitalzeit und langjährigen Praxiserfahrung allen vorbehaltlos weiter. Er sagte immer wieder: "Hier zeige ich euch all das live, was ich in der Schweiz nicht zeigen kann." Seine unermüdliche Energie, mit der er sich für die Patienten einsetzte, färbte ab und begeisterte alle, Patienten und Teilnehmer, indisch und europäisch. Er wurde nie müde zu erklären, wie er das Mittel entdeckt hatte. Es war auch erstaunlich, wie er in wenigen Minuten alle Aspekte eines Falles mitberücksichtigen und eine treffende Beratung einbauen konnte. Selbst die Art der Fallaufnahme und die Patientenbetreuung durch die Spital-Homöopathen in Goa änderte sich über die Jahre und sie konnten durch den Austausch viel von Dr. Jus profitieren. 2019 fand nochmals die beliebte „Goa School“ statt, diesmal nur mit indischen Studenten. Er arbeitete voller Energie und mit viel Freude im Spital und in den Camps. Seine Frau, Martine Jus wird das Projekt, die Zusammenarbeit mit Indien in seinem Sinne weiterpflegen. Geplant ist zunächst ein Kursus mit indischen Studenten, weitere Kursmöglichkeiten werden dann folgen.
Goa wurde zu einer zweiten Heimat für ihn. Er liebte das Land und die Menschen sehr und konnte dort Energie auftanken.
Vor einigen Jahren schrieb er folgende weise Zeilen im Editorial von SIMILIA Ausgabe 77, die seit seinem Abschied eine besondere Bedeutung einnehmen: „Ich schreibe diese Zeilen in Goa, einem liebgewonnenen Ort, in dem ich seit mehreren Jahren den Februar verbringe. Hier ist es Winter, oder sozusagen! Alles ist relativ im Leben, alles ist eine Frage des Standpunktes. Winter hier heisst 33 Grad tagsüber und Minimaltemperaturen von 20 Grad. Und da es Winter ist, sind die Menschen erkältet und ihre Rheumaschmerzen sind schlimmer! Ich komme hier zusammen mit einer Gruppe von Studierenden und praktizierenden Homöopathen. Wir arbeiten in einem homöopathischen Spital während drei Wochen, eine erfüllende Erfahrung. Die Menschen hier sind nicht anders als in der Schweiz, oder besser gesagt, sie reagieren nicht anders auf die Prüfungen des Lebens, sie drücken es etwas anders aus, aber im Grunde genommen sind es die gleichen Problemen, die sie beschäftigen: Sorgen um die Familie, Liebeskummer, Beleidigungen, Jobverlust, Alkoholismus usw. So wie die Sache mit dem Winter, es sieht auf dem ersten Blick ganz anders aus, aber eigentlich ist es nur ein relativer Unterschied und die Menschen reagieren ähnlich darauf. Alles ist relativ. Dieser Satz kann so hilfreich sein, wenn wir ihn im Alltag anwenden und das eigene Leben damit interpretieren. Dann spüren wir das Leben voll und ganz, mit all seinen Facetten, dann akzeptieren wir, dass es Glück nur in Relation zu Unglück gibt, dass wir lachen können, nur weil wir weinen können. Dann bekommen schwierige Lebensprüfungen eine andere Dimension. Sie werden dadurch nicht einfacher, aber man erlebt sie im Wissen, dass sie Teil eines Ganzen sind, selbst wenn man zurzeit nur die Hälfte davon wahrnimmt."

Kunst

Mohinder Singh Jus war ein Philosoph und ein sehr feinfühliger Mensch. Seine Liebe galt der Kunst. Neben der Kunst der Homöopathie waren es v.a. die Musik und die Malerei. Er selber lernte das Spiel der indischen Sitar und blieb diesem Instrument zeitlebens treu.
Zusammen mit seiner geliebten Schwester Amarjeet gründete er 1975 in Delhi den Musikverein „Sur-Rang“, zum Gedenken an den berühmtesten klassischen Sänger, Ustad Amir Khan. Sur-Rang entwickelte sich zu einem der grössten Musikvereine zur Förderung der klassischen indischen Musik und junger Talente in New Delhi. Während 10 Jahren, bis zu seiner Abreise in die Schweiz, organisierte Dr. Jus in seiner Funktion als Präsident unzählige Konzerte mit allen Maestros dieser Zeit. Als „opening act“ lud er weniger bekannte Musiktalente ein. Er pflegte eine enge Beziehung zu den Künstlern. So wurde sein Privathaus in B9 Kailash Colony ein beliebter Treffpunkt für viele Musikmeister dieser Zeit. Mit vielen war er befreundet und es fanden regelmässig spontane Privatkonzerte in der Wohnstube statt. Diese berühmten Musiker erachteten B9 als ihr eigenes Haus und wohnten oft dort, während sie in Delhi waren. Als Dr. Jus von dieser Zeit sprach, leuchteten seine Augen immer von einem sanften, besonderen Licht. In der Schweiz angekommen, fand er zunehmend Zugang zur westlichen Musik. Konzerte mit klassischer Musik besuchte er jedoch nur ungern. Er konnte sich nie damit anfreunden, mucksmäuschenstill zuhören zu müssen und nicht die durch die Musik ausgelösten Emotionen ausdrücken zu können. Die Malerei war ihm eine grosse Quelle der Freude und seine Seele lebt in jedem seiner zahlreichen Gemälde. Er malte immer in seinen Arbeitszimmer zu Hause, mit Blick auf seinen Garten und auf den Säntis. Nie machte er vorher eine Skizze. Inspirationen fand er in der Natur; berührt von einer Landschaft, speicherte er alles in seinem Kopf ab, jede Tanne, Schatten, das Licht, das Wasser. Dann liess er sich durch die Erinnerung beflügeln und entwickelte das Bild wie in einem Rausch weiter, manchmal entstanden so bis zu drei Bilder an einem Tag. Am liebsten malte er mit Aquarell-Kreide und zwar direkt mit der Kreide und mit seinem rechten Zeigefinger. Es war unglaublich, wie er bloss mit dem Finger und mit ein paar feinen Strichen mit dem Farbstift wahre Traumlandschaften hervorzauberte.

Spiritualität

Dr. Jus war ein sehr spiritueller Mensch. Er hat Gott in jedem Tier, in jeder Pflanze, in jeder Landschaft, in ruhiger Musik, in Gemälden gesucht und gespürt. Jeden Tag wurde er von der immerwährenden Schönheit der Natur von Neuem berührt und überwältigt. Er nahm seine Umgebung sehr tiefgründig wahr. An jeder Blume hat er mit höchster Intensität und Liebe gerochen, an den Farben und Formen der Natur konnte er sich nie satt sehen.
„Die Natur kleidet sich je nach Jahreszeit unterschiedlich. Sie versucht uns auf vielerlei Art zu bezaubern und uns mit Frieden und Harmonie zu segnen. Sie giesst unendliche Segnungen über die Schöpfung aus, um deren Wachstum zu fördern.“ (Lebensfluss, M.S. Jus)
Er hatte ein unerschütterliches Urvertrauen in Gott und egal welchen Schwierigkeiten er begegnete, er war stets überzeugt, dass es zum Besten sei. Nie hat er die Pläne von Mutter Natur in Frage gestellt.
"Die Natur kann nicht beeinflusst werden. Sie bewegt sich nie so, wie wir es wünschen. Sie hat ihre eigene Weisheit, ihre eigenen Pläne.“ (Lebensfluss, M.S. Jus)
Natur, Kunst, Homöopathie, all das waren für ihn Ausdrücke des Göttlichen. „Im Potenzierungsprozess muss die Substanz ihre Identität gänzlich aufgeben, sie verliert ihre Farbe, ihren Geschmack und Geruch, doch entfaltet sie bei diesem Vorgang dynamische Göttlichkeit.“ (Lebensfluss, M.S. Jus)
Mohinder Singh Jus war eine sanfte Seele. Sein bedingungsloser Einsatz für die Homöopathie, wo er sich nie zurücknahm und die Dinge direkt beim Namen nannte, wurde ihm oft als Arroganz zur Last gelegt. In seinem Innern war er jedoch überhaupt nicht arrogant. Im Gegenteil, er war sehr bescheiden und demütig. Oft pflegte er zu sagen: „Ein guter Homöopath zu sein ist viel einfacher als ein guter Mensch zu sein“. Er war immer bestrebt, aus seinen Fehlern zu lernen. Wir lernten ihn als grossen Philosophen, der uns seine weisen Worte nicht nur in derTheorie, sondern auch im Leben demonstrierte, schätzen und lieben. In seinen Worten: „Viele Menschen wollen nur eine Seite des Lebens sehen, ihre eigene Seite. Sie beharren auf ihrem Standpunkt, denken, die Hüter der einzigen Wahrheit zu sein. Sie verbringen einen grossen Teil ihres Lebens damit, ihre Ideen zu verteidigen, den anderen Teil um die anderen von ihrer Meinung zu überzeugen, ähnlich wie man sein Land gegen Eindringlinge schützt und andere Länder erobert. Bei all der Energieverschwendung bleibt wenig Kraft und Zeit für die eigene Entwicklung. Und das Risiko, vor lauter Angriff und Verteidigung die Orientierung zu verlieren, ist gross. Toleranz und Lerndurst sind bessere Kompasse im Leben. Lieber sollte man – wie weise Menschen empfehlen – das innere Kind in sich spüren, sich wie ein neugieriges, wissensdurstiges Kind verhalten und immer bereit sein, andere Standpunkte zuerst anzuhören, dann zu prüfen, mit dem eigenen Standpunkt zu vergleichen und anschliessend allfällige Anpassungen bei sich vorzunehmen.“

Der Abschied

Dr. Jus ist auf dem Zenit seiner Kunst von uns gegangen. Alle, die an seinen Patientensupervisionen in den letzten Jahren teilgenommen haben, haben es spüren können: Jede Fallaufnahme war ein Meisterwerk an sich. Noch nie gewährte er den Teilnehmern so tiefe Einsicht in sein Denken und Handeln. Als ob seine Seele seinen Studenten und Anhängern ein letztes Geschenk auf ihrem Lebensweg als Homöopathen machen wollte.
Doch seine Stärke war nicht nur die Homöopathie, sondern auch seine menschliche, freundschaftliche und liebevolle Art. Er spürte die Menschen, erkannte sofort die Tiefe der Seele und das wahre Wesen. Er hat allen selbstlos geholfen, unzählige geheilt und weise beraten. Alle hatten das Gefühl von ihm geliebt und verstanden zu werden. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens antwortete er einmal: „Die sinnvollsten und befriedigendsten Zeiten in meinem Leben waren, wenn ich mich für andere aufopferte.“
Dr. Jus hatte eine tiefe Zufriedenheit und inneren Frieden erlangt und er schaute glücklich und erfüllt auf das Erreichte zurück. Er hatte seine Mission erfüllt, sein Versprechen an seinen Lehrer gehalten und sein Leben hingebungsvoll der Homöopathie gewidmet. Sein Wunsch, bis zuletzt bei klarem Verstand arbeiten und dienen zu dürfen und an einem Herzinfarkt zu sterben, wurde ihm gewährt. Die homöopathische Gemeinschaft verliert einen ganz grossen Meister. Sein geistiges Erbe wird durch seine unzähligen Studenten, alle Homöopathen, welche die Jus-Methode anwenden, seine Patienten und alle mit denen er verbunden ist, weitergetragen. Seine Frau, Martine Jus hat ihm ihr Versprechen gegeben, seine Vision und sein Lebenswerk weiterzuführen und das SHI Haus der Homöopathie in seinem Sinne weiterzuentwickeln. Das SHI wird weiterhin wie ein Löwenzahn bleiben, Pusteblumen bilden und die Schirmchen, sein Vermächtnis, in die ganze Welt hinaus tragen.