Die Kunst der Fallaufnahme nach der Jus-Methode

erklärt anhand von Fallbeispielen bei Patienten mit wenig verwertbaren körperlichen Symptomen

Gabriela Keller, dipl. Homöopathin hfnh/SHI
Schulleitung SHI Homöopathie Schule

Die Jus-Methode beruht auf den Lehren der klassischen Homöopathie, begründet von Dr. Samuel Hahnemann. Sie stützt sich auf die Weiterentwicklungen von Dr. J.T. Kent und Dr. B.K. Bose. Dr. M.S. Jus hat die Methode noch weiter verfeinert.

Die Jus-Methode ist in der Fachwelt ein Begriff und hat sich etabliert. Sie ist individuell auf den Patienten und seine Situation anwendbar. Mithilfe dieser Methode kann der Homöopath dem Patienten mit Offenheit, Menschlichkeit, Wertschätzung und Empathie begegnen.

Die Jus-Methode setzt sich aus folgenden Elementen zusammen:

  • Fallaufnahme (Anamnese)
  • Individueller Umgang mit dem Patienten
  • Individuelle intensive Beratung: Lebensthemen, Gesundheit, Krankheit, Heilung und Unterdrückungen inkl. Therapieplan werden gemeinsam besprochen
  • Miasmenlehre: Sie ist eine tragende Säule der Jus-Methode. Das individuelle homöopathische Arzneimittel muss nicht nur zu den individuellen Symptomen des Patienten passen, sondern auch immer mit der vohandenen miasmatischen Belastung des Patienten übereinstimmen. Ebenso ist die Miasmenlehre auch wichtig für die Verlaufsbeurteilung.
  • Hierarchisierung der Symptome: Sie wird immer individuell auf den Fall abgestimmt
  • Interpretation des Fallverlaufs mit Integration der Miasmen

Die folgenden Erläuterungen beschränken sich auf die Kunst der Fallaufnahme nach der Jus- Methode.

Die Fallaufnahme anhand der Jus- Methode

Die Art der Anamnese ist schnell und sehr tiefgreifend. Sie basiert auf einer genauen Kenntnis der Materia Medica. Wenige Fragen reichen, das Beobachtete und Gespürte zu bestätigen oder zu verwerfen und die in Frage kommenden Mittel zu differenzieren. Die Jus- Methode verwendet keine standardisierten Verfahren. Bereits die Beobachtung liefert wertvolle Informationen über Aussehen, Verhalten, Reaktionen auf die Begrüssung und erste Kontaktaufnahme durch einen Händedruck.

In jedem einzelnen Fall setzt der Homöopath die Prioritäten individuell. Bei einigen Fällen wird die Causa gesucht, bei anderen wird über die Modalitäten verschrieben oder das Rezept basiert auf den Farben einer Ausscheidung oder Absonderung.

Jede Antwort des Patienten führt den Homöopathen zu seiner nächsten Frage, wobei es unproblematisch ist, zwischen Geistessymptomen, allgemeinen körperlichen und lokalen Symptomen zu wechseln. Wichtig ist das genaue Nachfragen oder Hinterfragen der Aussagen, solange bis das Symptom des Patienten klar verständlich ist. Während der gesamten Fallaufnahme reflektiert der Homöopath medizinische Aspekte und Differentialdiagnosen. Auf diese Weise kann er wichtige Fragen zu Arzneimitteln, Miasmen und medizinischen Problemen stellen. Die Symptome werden für die Mittelwahl patientenspezifisch bewertet.

Das Hauptaugenmerk für die Bewertung der Symptome liegt hauptsächlich auf der Kausalität, den §153-Symptomen, den Gemütssymptomen, den generellen Symptomen und auf der miasmatischen Belastung des Patienten.

Die mentalen Symptome, die Reaktionen des Patienten auf die Ereignisse des Lebens und die miasmatische Belastung sind sehr wichtig. In chronischen Fällen sind geistige und allgemeine körperliche Symptome wichtiger als die lokalen Symptome. Es werden alle Potenzstufen verwendet, die Potenz wird individuell auf den Patienten und seine Situation abgestimmt.

Der Umgang mit dem Repertorium

Bei der Jus-Methode wird nur selten ein Fall vollständig repertorisiert.

Dank fundierten Kenntnissen der Materia Medica und der Repertoriumrubriken erfolgt die Repertorisation der einzelnen Symptome bereits während der gesamten Fallaufnahme aus dem Gedächtnis heraus. In schwierigen Fällen benutzt der Homöopath das Repertorium, um einzelne Rubriken nachzuschlagen.

Die Fragen an den Patienten fliessen in ein natürliches Gespräch ein. Während des Gesprächs werden die erhaltenen Informationen fortlaufend einer der folgenden Gruppen zugeordnet: Der Ursache, den Gemütssymptomen, den allgemeinen körperlichen Symptomen, den Beschwerden und den lokalen Symptomen. Zusätzlich wird das Miasma jedes Symptoms berücksichtigt. (siehe Abb 1)

Die Kunst der Fallaufnahme bei Patienten mit wenig verwertbaren körperlichen Symptomen erklärt anhand von Fallbeispielen querschnittgelähmter Patienten.

Fallaufnahme 1:

Ein konstitutioneller Fall
Paraplegikerin seit 4 Jahren, Alter: 36 Jahre
Hier eine Zusammenfassung aus der Fallaufnahme dieses Falls:
Die Patientin erklärt, dass sie pro Jahr bis zu 13 Harnwegsinfektionen hat. Jede Infektion wurde mit Antibiotika behandelt. Diese Information gehört in die Gruppe der „Beschwerden“.

Die nächste Frage bezieht sich auf den Auslöser: Die Patientin wird gefragt, seit wann sie an diesen Infektionen leidet und was vor der Krankheit passiert ist. Sie erzählt folgendes:

  • Sie leidet, seit sie querschnittgelähmt ist, vorher hatte sie keine Infektionen
  • Vor dem Unfall war sie als Schreinerin tätig
  • Die Ursache ihrer Querschnittlähmung ist ein Autounfall
  • Sie katheterisiert mehrmals täglich (das bedeutet, jedes Mal gibt es Mikroverletzungen)

Hier ist zu sehen:
Auch wenn sie nach dem Auslöser gefragt wird, erzählt die Patientin uns auch noch etwas anderes. Als Schreinerin zu arbeiten, das beschreibt uns ihre Ambitionen und das gehört in die Gruppe der „Gemütssymptome“. Die anderen Aussagen gehören zum „Auslöser“.
Im weiteren Gespräch ergeben sich folgende Symptome:

  • Heute arbeitet sie in einem Büro als Buchhalterin
  • Perfektionistin
  • Angst, Fehler zu machen
  • Sturheit
  • Schüchtern

Seit Beginn der Fallaufnahme werden mögliche indizierte Arzneimittel reflektiert und es wird eine fortlaufende Differenzialdiagnose durchgeführt. Diese wird während der Fallaufnahme mehrmals korrigiert, und die zusätzliche Analyse der miasmatischen Belastung der Patientin wird in die Mittelwahl integriert. Zum jetzigen Zeitpunkt stehen folgende Mittel im Vordergrund: lyc, carc, ars, nat-m, sil, sep, die den bisherigen Symptomen am besten entsprechen.
Die Fallaufnahme geht folgendermassen weiter:
Die allgemeinen körperlichen Symptome sind:

  • Appetitlosigkeit, Essen ist nicht wichtig
  • Fröstelig, hat oft kalte Hände
  • Trägt im Winter gerne eine Wollmütze

Neue Differenzialdiagnose: Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir noch folgende Mittel im Vordergrund: sil und sep und zusätzlich kali-c, wegen der Empfindlichkeit gegenüber kalten Temperaturen.
Wir wechseln zu den lokalen Symptomen:

  • Trüber Urin
  • Stinkender Urin
  • Inkontinenz
  • Mehr Spastik während Infekten Aber diese akuten Symptome sind nicht wahlanzeigend für die Auswahl des Arzneimittels, da sie zur Krankheit gehören und keine individuellen Symptome des Patienten sind. Deshalb sind sie keiner Gruppe zugeordnet.

Die Symptome wechseln im Gesprächsverlauf noch mehrmals von Gruppe zu Gruppe und dies führt zu folgender Übersicht: Die Gemütssymptomesymptome werden vollständig mit:

  • Nicht gerne Berührung
  • Wenn jemand sie beleidigt, hat sie den Drang wegzulaufen
  • Sie lebt alleine und ist gerne alleine

Und als letzter Schritt folgt noch einmal die Gruppe der allgemeinen körperlichen Symptome:

  • Die Menstruation ist regelmässig und dunkel
  • Die Verdauung ist regelmässig
  • Schlaf ist gut

Alle drei Symptome sind nicht charakteristisch und deshalb nicht wahlanzeigend. Zur vollständigen Übersicht, werden die wahlanzeigenden Symptome, die bereits während der Fallaufnahme repertorisiert wurden, als Zusammenfassung dargestellt: In diesem konstitutionellen Fall basiert die Verschreibung hauptsächlich auf den Gemütssymptomen. Ich habe die Symptome des Auslösers in eine Gruppe zusammengefasst, so dass sie als ein Symptom zählen. Nur 8-10 charakteristische Symptome führen in diesem Beispiel zur Verschreibung des Arzneimittels.

Wir verschrieben Silicea LM1.

Die Patientin wird regelmässig homöopathisch nach der Jus-Methode behandelt. Nach dem ersten bis jetzt verabreichten Mittel (4 Jahre) traten nur 3 leichte Harnwegsinfektionen auf. Diese wurden nur mit Homöopathie und ohne die Notwendigkeit von Antibiotika behandelt.

Fallaufnahme 2: Ein Fall, der auf Gemütssymptomen und Modalitäten basiert

Paraplegiker seit 20 Jahren, Alter: 42 Jahre

Ich erkläre hier nicht noch einmal das gesamte Vorgehen in der Fallaufnahme, sondern zeige das Endergebnis:

In der Gruppe der Beschwerden sind folgende Symptome wichtig:

  • 8-10 Harnwegsinfektionen pro Jahr
  • Chronische Prostatitis
  • Nackenschmerzen
  • Leichte Inkontinenz, verwendet Kondomurinal

Der Patient katheterisiert nicht, das Urinieren erfolgt durch spontane Reflexentleerung. Es konnte kein Auslöser gefunden werden.

In der Gruppe des Gemüts sind folgende Symptome wichtig :

  • Arbeitet in einer Integrationseinrichtung für Querschnittgelähmte
  • Macht seine Doktorarbeit, er ist ehrgeizig
  • Wenn er beleidigt ist, streitet er
  • Lärmempfindlich, schlimmer durch Musik
  • Freiheitsliebend

In der Gruppe der allgemeinen körperlichen Symptome gab es nur Modalitäten, die wahlanzeigend waren und keine anderen allgemeinen körperlichen Symptome:

  • Kälteempfindlich, alles ist schlimmer durch Kälte
  • Schlimmer durch Wetterwechsel
  • Besser durch warme Temperaturen

Aufgrund der Querschnittslähmung gibt es keine verwertbaren lokalen Symptome. Hier sehen Sie die Zusammenfassung der Symptome des Gemüts und der Modalitäten der Fallaufnahme nach der Jus-Methode: In diesem Fall basiert die Verschreibung hauptsächlich auf den Symptomen des Gemüts und den allgemeinen Modalitäten. Nur 4-5 charakteristische Symptome führen zur Verschreibung.

Der Patient erhielt Nux vomica LM1.

Der Patient wird regelmässig homöopathisch nach der Jus-Methode behandelt. Nach dem ersten bis jetzt verabreichten Mittel (1.5 Jahre) traten nur 2 Harnwegsinfektionen auf. Nur eine Infektion musste mit Antibiotika behandelt werden.

Fazit:

Die zwei vorgestellten Fallaufnahmen verdeutlichen, wie die Jus-Methode praktiziert wird.
Der Homöopath kann die Methode sehr individuell anwenden. Er muss Schlüsselfragen stellen, um die wertvollen Symptome zu erhalten, die den Fall lösen. Dies gelingt nur, wenn er die Symptome der Materia medica gut kennt und die Arzneien im Kopf differenzieren kann. Mit der erklärten Technik der Fallaufnahme und mit genauer Analyse ist die Auswahl des Mittels möglich, selbst wenn der Homöopath nur wenig verwertbare Symptome zur Verfügung hat.

Quellenangabe:

  • Jus, M. S., Reise einer Krankheit, (3. Auflage), Homöosana, 1998
  • Jus, M. S. Kunst der Fallaufnahme, Similia Zeitschrift für klassische Homöopathie; Homöosana Verlag, Zug, (65), 6–13. 
  • Keller G., Casetaking Jus method, Proceeding, LMHI Leipzig 2017
  • Kent, J. T., Prinzipien der Homöopathie (1. Auflage), Barthel & Barthel, 1996